Tuesday, September 25, 2007

Ausser LOHAS nichts gewesen?
Eine kulturkreative Zwischenbilanz

Ganz so unschuldig und ihrer Bedeutung unbewusst wie noch vor zehn Jahren, als sie der US-Soziologe Paul Ray neu entdeckte, sind sie heute wohl nicht mehr. Die Kulturell Kreativen, eine Bevölkerungsgruppe mit liberaler politischer Einstellung, Interesse an einer ganzheitlichen Lebensweise und Werten wie ökologischem Engagement und spirituell-psychologischer Selbstverwirklichung, werden zunehmend auf sich aufmerksam.
Beigetragen hat dazu sicher, dass sie schon recht bald von der werbetreibenden Wirtschaft wahrgenommen und als Zielgruppe aufbereitet wurden. Die trendorientierten Agenturen erklärten die Kulturell Kreativen zu LOHAS, das heisst zu Vertretern eines „Lifestyle of Health and Sustainability“. Laut Wikipedia entsprechen „in den USA ungefähr 30 Prozent der Verbraucher dieser Ausrichtung, in Deutschland etwa 15 Prozent. LOHAS werden unter anderem als Natur- und
Outdoor-Urlauber oder als Kunden von Biosupermärkten geortet“.
Bio boomt bekanntlich und so wird heute die weltweite Kaufkraft dieser Gruppe auf mehr als 500 Milliarden Euro geschätzt. Wie
Claudia Rinke in CONNECTION schreibt, entwickelt der Markt in Deutschland derzeit Produkte für die neue Zielgruppe. Marko Fedrizzi, Brand Manager bei der Ski-Firma Kneissl:
»Die Kulturell Kreativen sind für uns als Kunden sehr interessant. Sie sind gesundheitsbewusst und treiben in der Regel viel Sport - bevorzugt in der Natur. Außerdem sind sie anspruchsvoll bezüglich der Qualität und der ästhetischen Gestaltung des Produktes.«

Wie so oft ist der neue Trend in den USA schon etwas weiter gediehen. Hier gibt es bereits regelrechte Lifestyle-Imperien mit weitgespannten Produktpaletten. Die Firma GAIAM (www.gaiam.com) etwa bietet dem aktiven und solventen Kulturell Kreativen das volle Programm mit eigenem Windrad, Yoga- und Meditationsassecoirs, biologischer Kleidung, energiesparenden Lampen, Wellnessheimgeräten und neuerdings auch einer Auswahl spiritueller Filme. GAIAM, 1988 ursprünglich als Yogamattenhersteller gegründet, übernahm im letzten Jahr Stephen Simons erfolgreich expandierenden Spiritual Cinema Circle mit seinen weltweit mehr als 20.000 Abonnenten.

Neben dem Markt haben in den USA vor allem die Medien damit begonnen, auf den kulturkreativen Trend zu reagieren. Anzeichen dafür können im Erfolg von überregionalen “Trägern positiver Nachrichten” wie UTNE, YES und natürlich den in Millionenauflagen erscheinenden Yoga-Hochglanz-Magazinen gesehen werden. Großstädtische Szene-Blätter wie COMMON GROUND präsentieren neben den neuen Werten ebenso neue Produkte - Amerika wäre nicht es selbst, nähme es nicht jede ideelle Gelegenheit zum materiellen Verkauf wahr.

Bemerkenswerter ist vielleicht, dass in den USA auch die etablierten Presseorgane auf die Kulturell Kreativen aufmerksam werden. NEWSWEEK veröffentlichte bereits im letzten Jahr die Ergebnisse eine Umfrage zum Verhältnis der Amerikaner zur Spiritualität. Spätestens hier erfuhr ein breites Publikum, dass es ungeachtet der lautstarken christlich-fundamentalistischen Minderheit im Lande eine wachsende Zahl von Menschen gibt, die sich als spirituell versteht, ohne damit notwendigerweise an eine Religion gebunden zu sein. Die Kennzeichnung “spiritual, but not religious” findet seitdem neben “religiös”, oder “konfessionslos” als neues Label zunehmend in den Medien Eingang. So gesehen erfährt derzeit in den USA eine zentrale Qualität der Kulturell Kreativen ihre gesamtgesellschaftliche Integration als neuer Wert und veränderte Lebenseinstellung.

In Deutschland sind die tonangebenden Medien noch verhaltener. SPIEGEL ONLINE berichtete Ende letzten Jahres zwar etwas verwundert, doch ohne Häme über das Phänomen der Kulturell Kreativen. Die implizite Anmerkung, dass deren Werteskala eine spirituelle Offenheit beinhaltet, ist dabei nur ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber immerhin ein grosser Schritt für den SPIEGEL!

Abgesehen von diesen Erfolgen ihrer externen Wahrnehmung bleibt die Frage, ob es auch innerhalb der neuen Bevölkerungsgruppe eine Fortentwicklung gibt. Der Evolutionsphilosoph und Bewußtseinsforscher Ken Wilber beklagt jedenfalls deren bisheriges Ausbleiben und sieht zuwenig Anhaltspunkte, um sich der positiven Wertung Paul Rays der Kulturell Kreativen als Träger eines neuen “integralen Bewußtseins” anzuschliessen. Die Webseite des INTEGRALEN FORUMS zitiert Wilber: “Was Ray die integrale Kultur nennt, ist nicht integral in dem Sinne, wie ich den Begriff verwende. Es wurzelt nicht in universalem Integralismus, reifer Schau-Logik oder Sekundärschicht-Bewußtsein. Vielmehr deuten Rays Untersuchungen daraufhin, daß die Mehrheit der Kulturell Kreativen im Grunde das grüne Mem aktiviert, was klar aus ihren Werten hervorgeht: diese sind nämlich stark antihierarchisch, auf Dialog ausgerichtet und propagieren einen Flachland-Holismus ("Alles-und-Jedes-Ganzheitlichkeit", wie Ray es formuliert)."
Wilber sieht gleichwohl in dieser Bevölkerungsgruppe das Potential verkörpert, aus dem integrales Bewußtsein erwächst. “Wenn die Kulturell Kreativen in ihre zweite Lebenshälfte gelangen, ist der Zeitpunkt gekommen, an dem eine weitere Bewußtseinstransformation besonders leicht erfolgen kann, nämlich die vom Grün zum gereiften Sekundärschicht-Bewußtsein.”
Was Wilber im integral-evolutionären Jargon seiner Philosophie zum Ausdruck bringt, zielt vor allem auf die Qualität eines zur Integration fähigen und kohärenten Welt- und Selbstbildes. Eine integrale Perspektive ist in der Lage, Weltbilder wie “religiös-kollektiv” oder “materiell-individualistisch” sowohl historisch konstruktiv zu verorten als auch in der eigenen Persönlichkeit zur fruchtbaren Synthese zu führen. Mit anderen Worten: Integrales Bewusstsein versöhnt mit der Vergangenheit und schafft Freiraum für die Zukunft.

Fazit: Die gesellschaftliche Integration der Kulturell Kreativen macht Fortschritte. Damit diese Integration fruchtbar wird und nicht zur blossen Vereinnahmung gerät, gilt es die kulturKreative Haltung zu vertiefen. Von Pionieren wie Wilber - und lange vor ihm von Rudolf Steiner oder Sri Aurobindo - liegen dazu Anleitungen vor, sowohl zur eigenen wie zur gesellschaftlichen Weiterentwicklung. Im Hinblick auf die weltweiten und bedrohlichen Spannungen zwischen Moderne und Tradition, den beiden anderen grossen Protagonisten der Rayschen Bevölkerungsanalyse, kann eine integrale Perspektive durchaus einen Ausweg bieten. „Lifestyle of Health and Sustainability“ im weiteren Sinne interpretiert ist dafür sicher kein schlechtes Motto. Zu seiner Umsetzung braucht es allerdings statt kulturkreativer LOHAS-Konsumenten eher integrale LOHAS-Akteure.


INFO 3, Oktober/November 2007