Tuesday, May 8, 2007

Vom Umgang mit Gurus

Westküsten-Streiflicht

Vom Umgang mit Gurus

Integrale Renaissance einer Kulturtechnik

Wolfgang J. Schmidt-Reinecke

Den meisten der rund 100 Anwesenden in dem nüchternen Versammlungsraum war ihre gespannte Erwartung und Besorgnis anzumerken. An einer hervorgehobenen Seite des grossen Kreises sass das im örtlichen Ashland beheimatete und in aller Welt lehrende Meister-Duo Gangaji und Eli Jaxon Bear. Wie zuvor bekannt geworden war, hatte Eli seine Partnerin Gangaji seit Jahren mit einer jüngeren Frau betrogen, noch dazu mit einer von ihm auszubildenden Schülerin. Das prominente Paar sah sich genötigt, seine engste Gemeinde zur gemeinsamen Offenlegung des Vorfalles zu bitten. Der Abend verlief mit viel Tränen und entschuldigenden Worten und konnte doch nicht verhindern, dass sich eine grössere Zahl von Anhängern und langjährigen Mitarbeitern der beiden Advaita-Gurus enttäuscht von ihnen abwandten.

Kein Einzelfall. Öffentliche Vorwürfe seitens frustrierter Schüler gegenüber ihren spirituellen Lehrern mehren sich nicht nur in den USA. Ein derzeit im Internet kursierendes Manuskript liefert eine bitterböse Abrechnung gleich mit einer ganzen Reihe bekannter Namen in Ost und West. (www.strippingthegurus.com). Das Ganze basiert auf einer einfachen Gundregel: Zeige auf, dass der Meister oder die Meisterin menschlich und moralisch gesehen fehlerhaft ist - und der „transpersonale Anspruch“ fällt in sich zusammen. Nach streng abendländischer Logik: Entweder (erleuchtet) oder (Scharlatan). Tetium non datur, ein Drittes gibt es nicht.
Oder vielleicht doch? Wenn ja, dann sind offensichtlich die Merkmale eines Sowohl-als-Auch-Denkens verlorengegangen und müssen gegebenenfalls neu erlernt werden.

Frühe Anthropologen zogen oft einfache Schlüsse, wenn sie Forschungen zu traditionellem Schamanismus durchführten. Die Beobachter registrierten, dass einige der traditionellen Heilpriester mitunter Taschenspielertricks zur Unterstützung ihrer Künste anwendeten. Viele Forscher folgerten daraus, dass dies auch in den anderen Fällen unerkannt geschehe und deshalb schamanistische Heilungs- und Beschwörungsprozesse grundsätzlich auf einem Plazebo-Effekt beruhen. Heute gibt es eine Reihe von Anthropologen, die schamanistische Wirkkraft komplexer sehen. Sie hatten unter anderem zur Kenntnis genommen, dass traditionelle Gesellschaften ihren Heilern differenziert gegenüberstehen. Je nach Situation zollen sie ihnen höchste Verehrung und Respekt – oder sie bringen im Umgang mit ihnen eher Spott und Vorsicht zum Ausdruck. Ist also der unterscheidende Umgang mit Priestern, Lehrern und Heilern der Geisteswelt eine Art Kulturtechnik, die wir so nicht kennen oder die uns verloren gegangen ist?

Vieles spricht dafür bei der Betrachtung eines anderen Beispiels. Sai Baba, derzeit einer der bekanntesten indischen Gurus, sieht sich seit Jahren dem vielfachen Vorwurf homosexueller Päderastie ausgesetzt (www.http://de.wikipedia.org/wiki/Sathya_Sai_Baba). Sai Baba hat weltweit Hunderttausende von Anhängern. Bemerkenswerterweise sind es jedoch vor allem Jungen und Jugendliche aus dem Westen, die Opfer dieser Handlungen werden. Das könnte den Schluss zulassen, dass sich indische Devotees, bewusst oder unbewusst, aus einem mehr oder minder bewussten, innerkulturellen „Guru-Verständnis“ heraus dem Meister vorsichtiger nähern.

Westler sind aufgrund des Erbes abendländischer Aufklärung geschulter darin, offenbar werdende psychologische Schattenseiten der Persönlichkeit zu bewerten. Letztere gilt im Menschenbild traditioneller östlicher Philosophien mehr als illusionäre Maske (=Persona). Vielleicht deshalb scheint bei Gurus, ähnlich wie gegenüber Schamanen in traditionellen Gesellschaften, in Indien und in buddhistischen Ländern weniger auf deren moralischen und „persönlichen“ Anteile geachtet zu werden. Wichtiger ist hier vor allem die Verkörperung einer überpersönlichen Präsenz, von der man sich eigene Erwachens-Initiation oder zumindest Heilung verspricht.

Die Jünger der in Amerika und Europa lehrenden Meister sind überwiegend gebildete Westler und können wahrscheinlich als solche gar nicht anders, als sich irgendwann auch der unbewussten Persönlichkeitsmerkmale ihrer Meister bewusst zu werden. Viele verzweifeln an dieser Entdeckung. Ganzheitliche Evolutionstheoretiker wie Ken Wilber oder Don Beck haben jedoch mittlerweile eindrucksvoll dargelegt, wie innerhalb einer Person (oder einer ganzen Gesellschaft) verschiedene Qualitäten im sehr unterschiedlichen Masse entwickelt sein können. Das Wilber-Combs-Schema etwa verdeutlicht, wie es einzelnen überall und immer schon möglich war, eine tiefe mystische oder Erwachenserfahrung zu verinnerlichen und sich zugleich moralisch oder intellektuell auf einem weitaus „flacheren“ Entwicklungsstand zu befinden („Integrale Spiritualität“, Ken Wilber, 2006) .

Was dennoch bleibt, ist die legitime Sehnsucht vieler Suchender nach lebendigen Zeugen einer höheren Bewusstseinsentwicklung. Vielleicht jedoch nicht mehr so sehr, um sich in eine langandauernde Abhängigkeit von einem Guru zu begeben, sondern eher um einen entscheidenden energetischen Anstoss für die eigene Entwicklung zu bekommen.

Spirituelle Pioniere eines „integralen“ (= integrierenden) Bewusstseins wie Sri Aurobindo in Indien oder Rudolf Steiner in Europa hatten bereits im vorigen Jahrhundert auf einen Zeitgeist verwiesen, der die historische Notwendigkeit der klassischen Guru-Schüler-Beziehung evolutionär überholt. Das Höhere Ich (Steiner) oder Seelische Wesen (Aurobindo), so beide Lehrer unabhängig voneinander, sei bei einer zunehmenden Zahl von Menschen heute zu einem bewussten Träger individueller und kosmischer Entwicklung gereift. Dank dieser stärker gewordenen seelischen Identität können sich Suchende auch ohne anhaltende Vermittlung von Gurus (und Priestern) mit der geistigen Welt in Bezug setzen und ihre eigene wie die Welt-Entwicklung „co-evolutionär“ beeinflussen.

In Ashland wie an der ganzen US-Westküste dominiert „Co-Evolutionary Transformation“ mit ihren vielen Ausformungen und Spielarten schon längst im Aufgebot der spirituell-mystischen Lehren und Methoden. Alternativen zu traditionellen Gurus und zu jahrtausendealten Erleuchtungslehren sind hier wie anderswo heute unschwer zu finden.


(INFO 3, Februar 2007)

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