Saturday, April 23, 2011

Westküstenstreiflicht: Die Wiederentdeckung der Seele

Neue Töne im New Age – Eine aktuelle Bücherschau

Kosmische Durchgaben, erwachte Offenbarungen und buddhistische Weisheiten sind Konstanten heutiger US- Westküsten-Spiritualität. In den letzten Jahren kann man jedoch auch andere, ungewohnte Töne hören. Es kommt ein Faktor ins transformative Spiel, der von den genannten Strömungen traditionell eher wenig beachtet wird. Das Interesse gilt dem einzigartigen oder authentischen Selbst in uns, dem höheren und zugleich individualisierten Ich. Kurz gesagt: Der evolutionäre Blick richtet sich auf die Seele.
Terry Patten und Steve McIntosh sind integral geschulte Autoren. Sie machen da weiter, wo Ken Wilbers latent buddhistisch anmutende Sichtweise der integralen Schau bisher Grenzen zu setzen schien. „Die Wahrheit des Universellen Selbst ist nicht die einzige Wahrheit“, schreibt Patten (Terry Patten et al, „ Integral Life Practice“, Integral Books, 2008). „Die absolute Wahrheit der Einheit existiert gemeinsam mit der anderen, relativen Wahrheit von der Einzigartigkeit jeder Person“ (Übersetzung WJS). Auch Steve McIntosh ist ein Gründungsmitglied der Integralen Instituts Ken Wilbers. McIntosh definiert das individuelle Selbst als den „Schwerpunkt“ der Person inmitten deren unterschiedlicher Entwicklungslinien und -ebenen („Integrales Bewusstsein“, Phänomen Verlag, 2009).
Das alles ist insofern revolutionär, als sich ein Grossteil zeitgenössischer New Age-Spiritualität bislang eher dualistisch gab in dem Sinn, dass sie transpersonales und individuelles Bewusstsein als zwei unversöhnliche Gegensätze ansah. Diese Sichtweise folgte weit verbreiteten Interpretationen des Vendanta und des Buddhismus.
Eine Sichtweise, die dieser Haltung kritisch gegenübersteht, wird beispielsweise von Brant Cortright, einem Professor des California Institut for Integral Studies in San Francisco vertreten. Cortright kennzeichnet die Seele als eine Art missing link zwischen dem transpersonalem Selbst und dem individuellem Ich („Integral Psychology“, SUNY Press, 2007). Er folgt damit der Definition des indischen Yogis und Evolutionsphilosophen Sri Aurobindo von einem Seelischen Wesen. Dieser Pionier integralen Denkens und ost-westlicher Weltsynthese beschreibt das „Psychic Being“ als Doppelgestalt mit einem absoluten, göttlichen Anteil und einem - ebenfalls göttlichen – evolutionären Part, d.h. einem sich in vielen Inkarnationen individualisierenden Ich. Sobald wir uns mit diesem seelischen Ich-Bewusstsein identifizieren, beginne die bewusste Co-Evolution des Menschen. Das Seelische Wesen bildet bei Sri Aurobindo die Achse allen spirituellen Evolutions- und Transformationsgeschehens.

Die Anerkennung einer seelischen Identität an sich ist natürlich nichts Neues. Sie bildet Bestandteil verschiedener Traditionen wie dem Christentum oder dem mosaischen Glauben. Marc Gafni, ein in USA lebender Kenner jüdischer Esoterik, verwies kürzlich in einem eindrucksvollen Interview mit dem integralen Autoren Craig Hamilton auf den bereits in der Kabbalah dargelegten Unterschied zwischen Ego und individuellem, göttlichen Ich, dem „Unique Self“ (als download: http://tinyurl.com/giaaudios).
Was also ist das Interessante bei der Wiederentdeckung der Seele im New Age? Da ist zum einen deren jetzt in den Blick kommende evolutionäre Dimension. Sie wäre durchaus geeignet, etwa die christliche Seele aus ihrer festgeschriebenen Kindlichkeit zu befreien und erwachsen werden zu lassen..
Zum anderen umfasst die neue, integrierte Seelenschau auch Elemente psychologischer Arbeit und kreiiert so eine Art Synthese von westlicher Seelenwissenschaft und östlicher Spiritualität. Zur Erlangung des neu definierten Seelenheils reicht es nicht mehr aus, sich einer traditionellen Gebets- oder Meditationsdisziplin zu unterziehen. Es stellt sich die zusätzliche Aufgabe, (Selbst-)Heilungsprozesse in den spirituellen Entwicklungsweg miteinzubeziehen.
Als Antwort darauf entstanden in jüngerer Zeit neue, ganzheitliche Techniken, bei denen die Grenzen zwischen therapeutischen und spirituellen Elementen verschwimmen. In USA und Deutschland bekannt wurde in dem Zusammenhang der Big Mind-Prozess von Genpo Roshi (“Big Mind”, Kamphausen, 2008). Mittels sogenannter Schattenarbeit werden unterbewusste Anteile ins Bewusstsein gerufen. Noch eindeutiger auf die seelische Integration von persönlicher und transpersonaler Erfahrung hin ausgerichtet zeigt sich die von Sri Aurobindo und Der Mutter inspirierte Hladina Methode der US-Psychologin Soleil Lithman. Was immer im Körper an unverarbeiteten Bildern und energetischen Blockaden einer spirituellen Entwicklung im Wege steht, wird an das seelische Licht gebracht und in das Jetzt integriert („Die Hladina Methode“, Via Nova, 2008). Heilung ist bei diesen neuen integralen Ansätzen nicht so sehr ein Prozess zur Wiederherstellung von Gesundheit, sondern mehr eine Begleiterfordernis evolutionär-spiritueller Entwicklung. Für die Transformation werden schlichtweg alle körperlichen, seelischen und geistigen Energien benötigt.
Bezeichnend ist, dass dieser (Rück-)Bezug auf die Seele von einer gleichzeitigen Wiederentdeckung des göttlichen „Du“ begleitet wird. Lange war im New Age unsere – vor allem aus dem Osten stammende - Erfahrungsmöglichkeit des Göttlichen als ES oder als un- und überpersönliches ICH dominierend. Wilber selbst war es, der vor nicht langer Zeit diese Einseitigkeit korrigierte und das „göttliche DU“ dem Gesamtbild hinzufügte (Ken Wilber „Integrale Spiritualität“, Kösel 2007). Doch wenn Gott wieder ein Gesicht erhält, zum Gegenüber wird, mit dem wir in Dialog und Kommunikation treten können, dann bedarf es dazu auch unserer Seele als Dialogpartner.
Die (Wieder-Entdeckung des eigenen, evolutionären Ichs ist vielleicht der wichtigste Schritt, um zu einer verantwortlicheren und aktiveren spirituellen Haltung zu gelangen. Die mitteleuropäische Anthroposophie weiss von der Zentral- und Doppelgestalt der Seele. Aber wie so oft könnte es sein, dass vielen im Lande erst über den (Um-)Weg der USA unser eigenes Erbe wieder zugänglich wird. Vielleicht also werden wir jetzt reif für eine Seelische Spiritualität.

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