Saturday, April 23, 2011
Westküstenstreiflicht: Mutiert oder Transformiert - Der „Neue Mensch“
Philosophisch wird das Bild einer technologisch bzw. gentechnisch manipulierten Menschheitsevolution als Transhumanismus bezeichnet, nach einem Ausdruck des Biologen Julian Huxley aus der Mitte des 20.Jahrhunderts. Transhumane Zukunftsvisionen gehen von einem materialistisch-atheistischen Menschenbild und der Vorstellung einer sich zunehmend verselbststaendigen Rolle von Technologie und Wissenschaft aus. Angesichts der von vielen Zeitgenossen wahrgenommenen Akzeleration der gegenwaertigen Entwicklung sprechen Transhumanisten von einem bevorstehenden Moment der Singularitaet, was den Zeitpunkt bedeuten soll, an dem das menschliche Gehirn der zunehmenden Komplexitaet des technologischen Fortschritts nicht mehr folgen kann und ein neues Menschenbild von Techno-Androiden den heutigen Humanismus abloest.
In den USA finden zu dem Thema Kongresse von Zukunftsforschern und Wissenschaftsautoren statt. Selbstbewusste Leitfiguren sind etwa der Science Fiction-Autor Ray Kurzweil oder der Neurophysiologe Hugo de Garsi („Die Aussicht, gottgleiche Kreaturen zu schaffen, erfuellt mich mit einem Gefuehl von religioeser Ehrfurcht!“). In der Tat ist im Wissenschaftsbetrieb und seinem angeschlossenen Gesundheitsmarkt die ideologiefrei und profitorientiert betriebene Opimierung von menschlichen Sinnesorganen, Gliedmassen, Koerper-und Hirnfunktionen inklusive gezielter genetischer (Neu-)Ausstattung laengst Realitaet.
Erstaunlicherweise wird diese weltweite Entwicklung kaum von einer breiten ethischen oder kulturellen Diskussion begleitet. In Deutschland ist zum Thema des „neuen Menschen“ eine besonders ausgepraegte Zurueckhaltung zu beobachten. Vielleicht gilt hier immer noch die beziehungsreiche Ansicht der frueheren Bundeskanzlers Schmidt, der einmal sagte: „Wenn mir jemand mit Visionen kommt, empfehle ich den Arzt!“.
Dabei war zu Beginn des vorigen Jahrhunderts der „Neue Mensch“ ein zentrales Thema in den Salons und Zirkeln europaeischer und besonders auch deutscher Kuenstler, Visionaere und Intellektueller. Damals schon reichte die Skala vom materialistisch-wissenschaftlich optimierten und verbesserten Menschen - darunter failen auch die angestrebten neuen Menschentypen des Marxismus und des Nationalsozialismus - bis zum Golem in Gustav Meyrings gleichnamigen Roman, der den alchemistisch erzeugten Homunkulus frueherer Jahrhunderte zum Vorbild hatte.
Mittlerweile ist allerdings leidvoll bekannt, dass allein schon das Leitbild eines hochgezuechteten Herrenmenschen zu moerderischen Konsequenzen fuehren kann. Es scheint deshalb, dass nicht nur in Deutschland seit den Wahnideologien des 20. Jahrhunderts Lust und Vertrauen in eine programmatische Menschenvision verloren gegangen ist. Der neue Mutantentypus in amerikanischen Medien spiegelt demzufolge eine ideologie-, aber auch ethikfreie Forschungswirklichkeit. Immerhin werden dabei allmaehlich wieder optimistischere Visionen erkennbar. Waehrend in „Matrix“ die virtuellen und saturierten Doppelgaenger noch auf manipulierter Massentaeuschung beruhten, kann in „Avatar“ der projizierte Held in einer besseren Welt seinen virtuellen in einen realen Status umwandeln.
Doch alle diese manipulativ optimierten Menschenmodelle, gleich ob in einer sinistren oder sympathischen Erscheinungsform, stehen im Widerspruch zu einer spirituell visionierten Weiterentwicklung des Menschen. Anthroposophische und theosophische Quellen sehen ebenso wie die integrale Schau Sri Aurobindos oder Ken Wilbers eine aus eigenem Impuls initiierte und evolutionaer intendierte Weiterentwicklung von Bewusstsein und Materie. Ziel ist eine neue und umfassendere Evolutionsstufe, bei Sri Aurobindo sogar eine neue Spezies.
Die Vision einer Fortentwicklung der Menschheit - und warum auch sollte die Evolution beim gegenwaertigen, offensichtlich unzulaenglich angepassten Homo Sapiens zuende gekommen sein? – erweist sich als tief im menschlichen Denken und Wollen verankert. Allerdings wird von Nietzsches Uebermensch bis zu den neuen Mutantenhelden der amerikanischen Medien-und Forschungswelten das Heil vor allem in der Potenzierung der vorhandenen physischen und psychologischen Ausstattung gesehen. Staerker, schneller und langlebiger sind die Merkmale des artifiziell artverbesserten Typus. Gaenzlich neue Eigenschaften und Muster werden kaum erkennbar. Das scheint immerhin verstaendlich, wie haetten beispielsweise auch menschliche Urahnen die Schoepferkraft eines modernen Einstein oder Beethoven imaginieren koennen?
Der wesentliche Unterschied zwischen Mutation und Transformation scheint aber zu sein, dass erstere keine ganzheitliche Entwicklung vor(aus)sieht. Der erwuenschte Zuwachs an neuen Faehigkeiten wird nicht ausbalanziert durch seelisches Wachstum, durch eine neue Qualitaet spiritueller Wachheit, Mitgefuehl und Verbundenheit. Tatsaechlich braucht es fuer diese seelische Entwicklung langer Schulung und Uebungspraxis. Es ist evolutionaer gesehen die auf die ganze Spezies erweiterte „mythische Heldenreise“. Diese seelische Reifung kann auch, wenn auch unter grossen Opfern, nachtraeglich geschehen. Harry Potter oder Avatar vermitteln etwa das Bild dieses nachgeholten Wachstums. Die Helden erhalten ohne ihr bewusstes Zutun uebermenschlichen Faehigkeiten und entscheiden sich dazu, sie nicht in den Dienst ihres Ego zu stellen, sondern sie ihrer seelischen, mit dem Ganzen verbundenen Erfuellung zu widmen.
Viele empfinden heute, dass wir die Schwelle zu einem neuen Evolutionssprung ueberschritten haben. Viele spueren auch die Einladung (oder den Druck), sich „co-evolutionaer“ an dieser Transformation zu beteiligen. Rudolf Steiners Erschliessung der geistigen Welten, Sri Aurobindos Hingabe an die evolutionaere Kraft und Ken Wilbers integrale Uebungspraxis sind erste Schulungswege fuer diejenigen, die unbeirrt von transhumanen Projektionen von den allein seelischen Grundlagen einer lebenswerten Entwicklung wissen.
Westküstenstreiflicht: Zwei Seelen schlagen, ach, in meiner Brust!
Beim Wort Romantik denken viele an Sonnenuntergang, an südländische Liebesschwüre und an rote Rosen. Was viele nicht wissen: Romantik ist eine ausgesprochen „deutsche Affäre“ (Safranski). Und sie bedeutet entschieden mehr als nur zarte Blumengebinde. Schlegel und Nietzsche bezeichneten sie als “schöpferisches Chaos“. Die Geisteshaltung der Romantik verkörperte zur Zeit ihrer Hochblüte im 18. und 19. Jahrhundert „dionysisches Leben“. Vernunft, so sie denn dabei überhaupt im Spiel sein will, wird von einem heissen Strom von Rausch, Ekstase, Begeisterung und Liebe überwältigt...
Hallo? Und das soll „deutsch“ sein? Ekstase und Chaos? Sind wir nicht weltweit als sachlich-präzise Quadratdenker bekannt?
Nun - im Urteil vieler Betrachter sind wir beides. Nur ist der romantische Teil unserer deutschen Seele im Gefolge des pseudoromantischen Nazi-Faschismus gründlich abgetaucht. Öffentlich legitimiert und zugänglich blieb in der Neuzeit nur der andere Teil unseres Nationalcharakters, die nüchterne, „tüftelnde“ Rationalität. Zumindest die Sensibleren unter uns vermissen jedoch schmerzlich ihre romantische Seite - meist ohne sich zugleich über das reiche Erbe der deutschen Seele im Klaren zu sein,
Zum Glück, und das liesse sich natürlich über alle Nationen sagen, sind die Deutschen nicht allein. Wir reisen nicht zuletzt deshalb ins „Ausland“, um uns selbst zu finden. Und obwohl die Romantik als bewusste Geisteshaltung eine überwiegend deutsche Färbung aufweist, ist sie doch auch in anderen Teilen der Welt zuhause. Deutsche Reisende, seien sie Seelensucher oder nicht, erfahren die Begegnung mit romantischen Lebensweisen in anderen Kulturen oft wie Heimkommen.
Novalis, Hölderlin, Hofmannsthal und ihre vielen Dichter- und Künstlerkollegen vor zweihundert Jahren hätten vermutlich ihre Freude gehabt am romantischen Lebensstil des etablierten US-Westküsten-New Age. Es sind die heutigen Nachfahren der Flower Power-Hippies, die ihrerseits schon unverkennbar romantische Züge aufwiesen: Ekstase und poetische Sehnsucht, mystische Liebe zur Natur und zu natürlichen Kraftorten, Rausch, Tanz und Musik. Die meisten New Age-ler sind esoterisch interessiert und beziehen ihren Lebensstil und ihre Weltanschauung auf ein postmodernes Pantheon der Spiritualität.
„Romantik ist Fortsetzung der Religion mit ästhetischen Mitteln“ definiert Rüdiger Safranski in seinem klugen Buch „Romantik - eine deutsche Affäre“. Der Raum des Spirituellen wird oft von wilder und chaotischer Kreativität eingenommen. Elementaren Ausdruck findet das etwa im „Burning Man“-Festival. Das Fest hatte 1986 in San Francisco seinen Ursprung, angeblich in Liebeskummer begründet (!). Mittlerweile brennt die namensgebende Riesenstatue jährlich vor 50.000 Teilnehmern in der Wüste von Nevada. Während des Festivals entsteht eine temporäre und mit atemberaubend künstlerischer Kreativität gestaltete Stadt, die anschließend wieder abgebaut wird. Im Jahr 2005 war “Seele” das Motto, 2008 galt dem “Amerikanischen Traum” und das Thema im Jahr 2009 lautet “Evolution”.
Romantischer Lebensstil ist auch während des Jahres vorherrschend. An nicht wenigen Orten der Westküste hat zum Beispiel ein sonntagvormittäglicher „Ecstatic Dance“ den traditionellen Gottesdienst abgelöst. Das sind von gemeinsamen Om-Chanten eingeleitete, ritualisierte Tanzfeste der „Conscious Communities“.
Ein unschuldiges Vergnügen? Sicher, doch zumindest der deutsche Betrachter wechselt irgendwann auch wieder zur Perspektive seiner pragmatischen Seelenhälfte. ihm fällt dann die Gleichgültigkeit des romantischen Treibens gegenüber kritisch-rationaler Vernunft auf, eine Ignoranz, aus der Blindheit gegenüber umgebenden politischen und sozialen Bedrohungen erwachsen kann. Immerhin empfanden viele ausländische Beobachter die USA über Jahre hinweg in moralisch und politisch immer trübere Fahrwasser abdriften. Als geschichtsbewusste Deutsche können dabei wir nicht anders, als uns an die Zeit zu Beginn des vorigen Jahrhunderts zu erinnern. Etwa an die in vieler Hinsicht romantisch geprägten 20er Jahre mit Wandervogel, Lebensreform, rauschenden Kostüm-Parties und spirituellen Medien, die in Stil und Ausdrucksform durchaus das zeitgenössische US-New Age vorwegnahmen.
Der Historiker Isaiah Berlin hat die damalige deutsche Romantik im Vorfeld des heraufziehenden Unheils betrachtet. „Die Romantik hat deshalb politische Monstren ausbrüten können, weil sie, zuerst spielerisch und genial, dann aber praktisch dem Grundsatz gehuldigt hat, dass der individuelle schöpferische Wille stärker ist als jede subjektive Struktur der Welt, der man sich anpassen muss“.
Und genau diese Ausrichtung beschreibt auch die Kernhaltung des
neo-romantischen New Age zwischen Santa Cruz und Seattle. Die Überzeugung, dass eine „co-kreative“ Mitgestaltung der Welt im praktisch unbegrenzten Ausmass möglich ist. Nur zu oft entsteht daraus magisches und fast kindliches Wunscherfüllungsdenken á la „Secret“und „What the Bleeb“. In einer Welt, die ausschliesslich unserer subjektiven Gestaltungskraft gehorcht, fällt Politik bestenfalls die Rolle einer sekundären Wirklichkeit zu. Warnungen und kritische Analysen geraten in den Verdacht des “negativen Denkens“, das, ähnlich sich selbst erfüllender Prophezeiungen, unheilvolle Situationen und Bedingungen erst ins Leben ruft.
So sehr alldem ohne Zweifel ein gutes Körnchen Wahrheit innewohnt, so sehr, das zeigt nicht zuletzt deutsche Geschichte, bedarf eine einseitig gelebte Romantik der Ergänzung des rationalen Korrektivs.
Das gilt jedoch auch umgekehrt. Safranski etwa spricht aus der Position des nüchternen deutschen Zeitgenossen, der Romantik gerade erst in der deutschen Seele wiederentdeckt und neu legitimiert hat. Diese Wahrheit unseres romantischen Erbes dürfe uns nicht wieder verloren gehen, denn politische Vernunft und Realitätssinn seien zu wenig zum Leben. Oder, wie Rilke sagt, „wir sind nicht sehr verlässlich zu Hause, (allein) in der gedeuteten Welt.“
Westküstenstreiflicht: Die Wiederentdeckung der Seele
Kosmische Durchgaben, erwachte Offenbarungen und buddhistische Weisheiten sind Konstanten heutiger US- Westküsten-Spiritualität. In den letzten Jahren kann man jedoch auch andere, ungewohnte Töne hören. Es kommt ein Faktor ins transformative Spiel, der von den genannten Strömungen traditionell eher wenig beachtet wird. Das Interesse gilt dem einzigartigen oder authentischen Selbst in uns, dem höheren und zugleich individualisierten Ich. Kurz gesagt: Der evolutionäre Blick richtet sich auf die Seele.
Terry Patten und Steve McIntosh sind integral geschulte Autoren. Sie machen da weiter, wo Ken Wilbers latent buddhistisch anmutende Sichtweise der integralen Schau bisher Grenzen zu setzen schien. „Die Wahrheit des Universellen Selbst ist nicht die einzige Wahrheit“, schreibt Patten (Terry Patten et al, „ Integral Life Practice“, Integral Books, 2008). „Die absolute Wahrheit der Einheit existiert gemeinsam mit der anderen, relativen Wahrheit von der Einzigartigkeit jeder Person“ (Übersetzung WJS). Auch Steve McIntosh ist ein Gründungsmitglied der Integralen Instituts Ken Wilbers. McIntosh definiert das individuelle Selbst als den „Schwerpunkt“ der Person inmitten deren unterschiedlicher Entwicklungslinien und -ebenen („Integrales Bewusstsein“, Phänomen Verlag, 2009).
Das alles ist insofern revolutionär, als sich ein Grossteil zeitgenössischer New Age-Spiritualität bislang eher dualistisch gab in dem Sinn, dass sie transpersonales und individuelles Bewusstsein als zwei unversöhnliche Gegensätze ansah. Diese Sichtweise folgte weit verbreiteten Interpretationen des Vendanta und des Buddhismus.
Eine Sichtweise, die dieser Haltung kritisch gegenübersteht, wird beispielsweise von Brant Cortright, einem Professor des California Institut for Integral Studies in San Francisco vertreten. Cortright kennzeichnet die Seele als eine Art missing link zwischen dem transpersonalem Selbst und dem individuellem Ich („Integral Psychology“, SUNY Press, 2007). Er folgt damit der Definition des indischen Yogis und Evolutionsphilosophen Sri Aurobindo von einem Seelischen Wesen. Dieser Pionier integralen Denkens und ost-westlicher Weltsynthese beschreibt das „Psychic Being“ als Doppelgestalt mit einem absoluten, göttlichen Anteil und einem - ebenfalls göttlichen – evolutionären Part, d.h. einem sich in vielen Inkarnationen individualisierenden Ich. Sobald wir uns mit diesem seelischen Ich-Bewusstsein identifizieren, beginne die bewusste Co-Evolution des Menschen. Das Seelische Wesen bildet bei Sri Aurobindo die Achse allen spirituellen Evolutions- und Transformationsgeschehens.
Die Anerkennung einer seelischen Identität an sich ist natürlich nichts Neues. Sie bildet Bestandteil verschiedener Traditionen wie dem Christentum oder dem mosaischen Glauben. Marc Gafni, ein in USA lebender Kenner jüdischer Esoterik, verwies kürzlich in einem eindrucksvollen Interview mit dem integralen Autoren Craig Hamilton auf den bereits in der Kabbalah dargelegten Unterschied zwischen Ego und individuellem, göttlichen Ich, dem „Unique Self“ (als download: http://tinyurl.com/giaaudios).
Was also ist das Interessante bei der Wiederentdeckung der Seele im New Age? Da ist zum einen deren jetzt in den Blick kommende evolutionäre Dimension. Sie wäre durchaus geeignet, etwa die christliche Seele aus ihrer festgeschriebenen Kindlichkeit zu befreien und erwachsen werden zu lassen..
Zum anderen umfasst die neue, integrierte Seelenschau auch Elemente psychologischer Arbeit und kreiiert so eine Art Synthese von westlicher Seelenwissenschaft und östlicher Spiritualität. Zur Erlangung des neu definierten Seelenheils reicht es nicht mehr aus, sich einer traditionellen Gebets- oder Meditationsdisziplin zu unterziehen. Es stellt sich die zusätzliche Aufgabe, (Selbst-)Heilungsprozesse in den spirituellen Entwicklungsweg miteinzubeziehen.
Als Antwort darauf entstanden in jüngerer Zeit neue, ganzheitliche Techniken, bei denen die Grenzen zwischen therapeutischen und spirituellen Elementen verschwimmen. In USA und Deutschland bekannt wurde in dem Zusammenhang der Big Mind-Prozess von Genpo Roshi (“Big Mind”, Kamphausen, 2008). Mittels sogenannter Schattenarbeit werden unterbewusste Anteile ins Bewusstsein gerufen. Noch eindeutiger auf die seelische Integration von persönlicher und transpersonaler Erfahrung hin ausgerichtet zeigt sich die von Sri Aurobindo und Der Mutter inspirierte Hladina Methode der US-Psychologin Soleil Lithman. Was immer im Körper an unverarbeiteten Bildern und energetischen Blockaden einer spirituellen Entwicklung im Wege steht, wird an das seelische Licht gebracht und in das Jetzt integriert („Die Hladina Methode“, Via Nova, 2008). Heilung ist bei diesen neuen integralen Ansätzen nicht so sehr ein Prozess zur Wiederherstellung von Gesundheit, sondern mehr eine Begleiterfordernis evolutionär-spiritueller Entwicklung. Für die Transformation werden schlichtweg alle körperlichen, seelischen und geistigen Energien benötigt.
Bezeichnend ist, dass dieser (Rück-)Bezug auf die Seele von einer gleichzeitigen Wiederentdeckung des göttlichen „Du“ begleitet wird. Lange war im New Age unsere – vor allem aus dem Osten stammende - Erfahrungsmöglichkeit des Göttlichen als ES oder als un- und überpersönliches ICH dominierend. Wilber selbst war es, der vor nicht langer Zeit diese Einseitigkeit korrigierte und das „göttliche DU“ dem Gesamtbild hinzufügte (Ken Wilber „Integrale Spiritualität“, Kösel 2007). Doch wenn Gott wieder ein Gesicht erhält, zum Gegenüber wird, mit dem wir in Dialog und Kommunikation treten können, dann bedarf es dazu auch unserer Seele als Dialogpartner.
Die (Wieder-Entdeckung des eigenen, evolutionären Ichs ist vielleicht der wichtigste Schritt, um zu einer verantwortlicheren und aktiveren spirituellen Haltung zu gelangen. Die mitteleuropäische Anthroposophie weiss von der Zentral- und Doppelgestalt der Seele. Aber wie so oft könnte es sein, dass vielen im Lande erst über den (Um-)Weg der USA unser eigenes Erbe wieder zugänglich wird. Vielleicht also werden wir jetzt reif für eine Seelische Spiritualität.
Tuesday, December 23, 2008
Wenn sich das Politische und das Spirituelle treffen“
Westküsten-Streiflicht INFO 3 !, 2009
Weit über sein eigenes Land hinaus betrachten Menschen ihn als Weltenretter und säkularen Messias. Auf YouTube besingen ihn unzählige Lieder in vielen Sprachen als strahlenden Hoffnungsträger. Barack (Kishuaeli für „Segen“) Obama gilt als begnadeter neuer Präsident im Weissen Haus. Besonders nach der vorangegangenen Periode engstirniger und verbohrter Welt- und Innenpolitik sind die Erwartungen an ihn gewaltig.
Es gibt andererseits Verschwörungstheorien, die auch Obama als Spielball finsterer Mächte darstellen. Kein Wunder: Im Internet und an der US-Westküste feiern Gerüchte über geheime Intrigen seit Jahren und zunehmend Hochkonjunktur. Über weltweit rezipierte Sagas wie dem unbekannten Familienleben Jesu Christi hinaus gibt es einen „alltäglichen Wahnsinn“, der in virtuellen und realen Zirkeln heraufbeschworen wird.
„Warum bemerkt es denn fast niemand? Sie tun es jeden Tag, sie tun es offen - und niemand sieht es!“ Tej aus dem Westküstenstädtchen Ashland trifft sich regelmässig mit Gleichgesinnten, um sich über die am Himmel sichtbaren, schleichenden Attacken auf die unwissende Bevölkerung auszutauschen. „Chemtrails“ sind für ungeübte Beobachter nichts anderes als Kondensstreifen von Jets. Chemtrail-Insider wissen jedoch, dass es sich in Wirklichkeit um eine Mischung biochemischer Giftstoffe handelt, die im unbekannten Auftrag täglich von Flugzeugen in die Atmosphäre über Ashland und anderer Regionen der USA gesprayt werden. Geheimes Ziel ist es, die Bewohner liberaler US-Regionen durch Krankheiten zu schwächen und bei ihnen eventuell sogar Bewusstseinsveränderungen herbeizuführen... Dies ist wohlgemerkt nicht ein Kantinengespräch im örtlichen Mental Hospital, sondern die feste und offen geäusserte Überzeugung geachteter Mitbürger in der politisch und spirituell regen Westküstenlandschaft.
Die Attacken von 9/11 haben in mehrerer Hinsicht Dämme gebrochen. Spätestens seit diesem Einschlag in die Bollwerke unseres Realitätsglaubens wird alles für möglich gehalten. Die vielen unaufgeklärten Umstände des Attentats schüren bei vielen Amerikanern bis heute den Verdacht, ihre Regierung habe aus strategischen Gründen die massenmörderische Aktion selbst ausgeheckt. Was auch immer an dieser ungeheuerlichen Vermutung wahr sein mag, Tatsache ist jedenfalls, dass die ihrem ruhmlosen Ende entgegengehende Bush-Regierung sowohl ihr Volk als auch die Weltgemeinschaft mehrfach hinters Licht geführt hat. Die SZ berichtete Ende November online: „Weil Cheney und Rumsfeld den meisten (eigenen) Geheimdiensten misstrauten, wurde Anfang 2002 im Pentagon eine Arbeitsgruppe mit dem Titel "Office of Special Plans" (OSP) installiert, die sich selbst "the cabal" nannte. Das heißt "Intrige", und dieser Name war keine Übertreibung für die verschworene Truppe, die nur zwei Dutzend Mitarbeiter hatte. Aufgabe der Spezialabteilung war es, Beweise für eine Verbindung zwischen dem Diktator Saddam Hussein und Osama Bin Laden herbeizuschaffen und das Arsenal der angeblichen Massenvernichtungswaffen Saddams neu zu taxieren.” Wie wir wissen, diente diese “Materialbeschaffung” als Grundlage für eine arglistige Täuschung.
Wem kann man da noch trauen? Auch Obama, so der Tenor einer im Internet erhältlichen Publikation, sei eben nur eine Figur der geheimnisumwitterten “Trilateralen Kommission”, der “Allianz der größten kapitalistischen Staaten mit dem Ziel, eine ihren dominanten Interessen entsprechende, stabile Form der Weltordnung voranzutreiben oder zu erhalten” (wikipedia). Obamas weltweite Überzeugungskraft beruhe auf dem Einsatz ausgeklügelter Massenhypnosetechniken, die er bei seinen Reden anwende...
Dies mag nur insoweit erwähnenwert sein, als dass es die chronischen Ängste in Teilen des endzeitlich gestimmten (und wie der Rest Amerikas von einer herben Wirtschaftskrise gebeutelten) New Age wiedergibt. Als Höhe- bzw. Endpunkt dieser Entwicklung sehen viele gebannt auf das Datum 21. Dezember 2012, den Tag, an dem die gegenwärtige Periode des Maya-Kalenders endet. Bis dahin, so die meist gechannelten Vorhersagen, werden sich katastrophale Ereignisse wie Anschläge, ökologische Unfälle und ökonomische Crash häufen.
Die positive Interpretation der kommenden Zeitenwende betont dagegen unterstützende Entwicklungen und als solche wird natürlich von fast allen die Wahl Obamas gesehen. Verschwörungstheoretiker, die sich noch einen Funken Hoffnung bewahrt haben, Linke und Liberale, Kulturkreative und Integrale finden sich heute trotz aller Verschiedenheiten unter einem von allen gleichermassen als integer empfundenen Präsidenten vereint.
Besonders für Integrale interessant übrigens in dem Zusammenhang, dass Obama bei einem Fundraising-Dinner während des Wahlkampfs Wilber zitierte.
Aber auch spirituell traditioneller orientierte Lehrer wie Gangaji und Eli Jaxon Bear betonten kürzlich in einem Interview die Bedeutung von Obamas Wahl. “Ich fühle mich so zu ihm hingezogen, dass ich fast weinen muss, wenn ich ihn sehe. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen Präsidenten habe, der ein echter Führer ist. Er ist die Erfüllung von Martin Luther Kings Traum und zugleich noch viel mehr. Ich hatte es mir nie vorstellen können, dass in diesem Land jemals ein so ehrlicher und natürlicher Mensch zum Präsidenten gewählt werden könnte. Er zeigt, was für jeden von uns möglich ist”, sagt Eli. Und Gangaji ergänzt: “Ich sehe ihn als Botschafter der unbegrenzten Möglichkeiten in uns. Ich sehe ihn zugleich als Ankündigung einer weltweiten Öffnung zu einem globalen Bewusstsein. Ohne dass er sich selbst als ´spirituell´ bezeichnet, ist er nichtsdestoweniger ein Träger spiritueller Werte: Mitgefühl, Verzeihung, Einbeziehung von allen. Es sind besondere Zeiten, wenn sich das Politische und das Spirituelle treffen!“
Und die sind es wohl wirklich. Es sind Zeiten, in denen wir starke Kräfte am Werk spüren. Zum Guten wie zum Bösen. Es sind Zeiten des Unvermuteten, in denen gewohnte Strukturen über Nacht zusammenbrechen. So geschehen in einer dieser Zeiten mit der Berliner Mauer, aber andererseits auch mit dem Word Trade Center. In den USA wurde jetzt mit einer einzigen Wahl ein lang existierender Rassismus durchbrochen, aber zugleich mussten als grundsolide geltende Wirtschaftsgaranten plötzlich um Hilfe vor dem Konkurs betteln.
All das weckt Hoffnungen und Ängste zugleich. Es sind Zeiten, in denen ein Art kosmisches Fenster offensteht und das Unmögliche real wird. Und eben dies offenbart wohl eine tiefere Realität.
Wednesday, September 10, 2008
"Überlebnis" von Ulla Berkéwicz
in: "Connection", Oktober/November 2008
Ulla Berkéwicz, “Überlebnis”, Suhrkamp, 2008
Das Sterben ist eine Meisterin aus DeutschlandSag mir, wie du über den Tod denkst und ich sage dir, wie du das Leben verstehst. Sterben ist Anathema in narzistisch-atheistisch-hedonistischer Kultur. Dabei gäbe es viele Gründe, der Begegnung mit dem Tod ins Auge zu sehen. Traditionelle Gesellschaften zelebrierten ihn als Übergang und räumten dem Sterben öffentlichen Raum ein. Heute ist der Übergang unklar geworden und Sterben und Tod bilden ein abgedrängtes, privates Phänomen, dem mit Scheu und Schaudern begegnet wird.
Ulla Berkéwicz lässt keinen Zweifel daran, dass Tod für sie kein sinnloses Ende ist. Umso mehr rechnet sie mit heutigem Sterben ab. Sie schildert, autobiografisch gefärbt, das zeitliche Ende ihres Mannes sowie eines Freundes. Die Liebe ist für sie, so wie für viele große Liebende und spirituelle Menschen, Brücke in die Zeitlosigkeit, d.h. mit Bestand über den Tod hinaus. Die liebende Wegbegleiterin rennt verzweifelt und wütend an gegen die Gleichgültigkeit, Feindseligkeit und Ignoranz, die die sie umgebende Gesellschaft gegenüber Tod und Sterben an den Tag legt. Ausdruck dessen ist das Verhalten der professionellen Sterbehelfer, d.h. Krankenhauspersonal und bezahlte Pfleger ebenso wie traditionelle “Seelenversorger”, in ihrem Fall aus der jüdischen Kultur.
Eindrücke und Beobachtungen strömen in der charakteristischen Poesie der Autorin, in einem ausdrucksvollen, expressionistisch wirkenden Sprachduktus. Ulla B. verfasst damit, so der Eindruck, nicht nur eine kulturkritische Anklage gegen sinnentleertes Sterben, sondern sie schreibt sich auch viel gegenwärtigen Ärger von der Seele. Für ersteres hat sie gute Voraussetzungen; für zweiteres allen Grund.
Ulla Berkéwicz hatte in den siebziger Jahren als Schauspielerin Engagements an namhaften deutschen Bühnen. 1980 ließ sie sich als freie Schriftstellerin in Frankfurt am Main nieder.1990 heiratete sie den Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld. Nach dessen Tod im Jahre 2002 übernahm sie den Vorsitz des Verlages. Wie man den Medien entnehmen konnte, für sie in mancher Beziehung ein einsamer Posten.
Suhrkamp stand in den Nachkriegsjahrzehnten als Synonym für die kritische Frankfurter Schule; die legendäre “Suhrkamp-Kultur” verkörpert bis heute den Geist postmoderner Aufklärung. Die Autorin und Verlegerin geht jedoch nicht erst mit der Erfahrung und Schilderung des Todes als “Überlebnis” über die Kultur ihres eigenen Hauses hinaus. Seit sie ihre postrationale Weltsicht in ihren Büchern zum Ausdruck bringt, erntet sie in den Medien und im eigenen Haus Unverständnis bis hin zum blanken Hass und erbitterter Gegnerschaft. Nach Ansicht beispielsweise des Psychoanalytikers Tilman Moser späte Nachwirkungen der seelischen Verwundung Deutschlands durch die Nazi-Zeit, die bis heute Mystik mit Faschismus verwechseln lässt. Ironie des Schicksals ist dabei, dass Siegfried Unseld den Suhrkamp-Verlag ursprünglich auf Hermann Hesse begründete, einen spirituellen Sinnsucher par excellence und immer noch einen der meistgelesensten deutschsprachigen Schriftsteller im Ausland. “Überlebnis“ ist so gesehen ein lesenswertes Buch nicht nur über die Gegenwart des Sterbens, sondern auch des Ringens um die Wiederaneignung einer integralen Kultur in Deutschland.
Ulla B. deutet in den letzten Sätzen des Buches - versteckt in Poesie, wie es der deutsche Zeitgeist noch erfordert - eine transzendente Erfahrung an. Sie geschieht am Ende ihrer Trauerzeit, am Ende des endlosen Ausharrens am Bett ihres sterbenden Mannes, nachdem sie losgelassen hat von Schmerz und Wut. “Wenn also dann vorbeigegangen ist, was niemals endet..., dann reißt der Spalt. Und dann? Wird man an einem windigen Allerweltstag eingeweht, in eins geweht..., dann ist die Zeit vertickt, dann ist der Bettrand ewig.”
Wolfgang Schmidt-Reinecke, Journalist, Ashland, Oregon, USA, www.sunwolfcreations.com
Tuesday, September 25, 2007
Eine kulturkreative Zwischenbilanz
Ganz so unschuldig und ihrer Bedeutung unbewusst wie noch vor zehn Jahren, als sie der US-Soziologe Paul Ray neu entdeckte, sind sie heute wohl nicht mehr. Die Kulturell Kreativen, eine Bevölkerungsgruppe mit liberaler politischer Einstellung, Interesse an einer ganzheitlichen Lebensweise und Werten wie ökologischem Engagement und spirituell-psychologischer Selbstverwirklichung, werden zunehmend auf sich aufmerksam.
Beigetragen hat dazu sicher, dass sie schon recht bald von der werbetreibenden Wirtschaft wahrgenommen und als Zielgruppe aufbereitet wurden. Die trendorientierten Agenturen erklärten die Kulturell Kreativen zu LOHAS, das heisst zu Vertretern eines „Lifestyle of Health and Sustainability“. Laut Wikipedia entsprechen „in den USA ungefähr 30 Prozent der Verbraucher dieser Ausrichtung, in Deutschland etwa 15 Prozent. LOHAS werden unter anderem als Natur- und Outdoor-Urlauber oder als Kunden von Biosupermärkten geortet“.
Bio boomt bekanntlich und so wird heute die weltweite Kaufkraft dieser Gruppe auf mehr als 500 Milliarden Euro geschätzt. Wie Claudia Rinke in CONNECTION schreibt, entwickelt der Markt in Deutschland derzeit Produkte für die neue Zielgruppe. Marko Fedrizzi, Brand Manager bei der Ski-Firma Kneissl: »Die Kulturell Kreativen sind für uns als Kunden sehr interessant. Sie sind gesundheitsbewusst und treiben in der Regel viel Sport - bevorzugt in der Natur. Außerdem sind sie anspruchsvoll bezüglich der Qualität und der ästhetischen Gestaltung des Produktes.«
Wie so oft ist der neue Trend in den USA schon etwas weiter gediehen. Hier gibt es bereits regelrechte Lifestyle-Imperien mit weitgespannten Produktpaletten. Die Firma GAIAM (www.gaiam.com) etwa bietet dem aktiven und solventen Kulturell Kreativen das volle Programm mit eigenem Windrad, Yoga- und Meditationsassecoirs, biologischer Kleidung, energiesparenden Lampen, Wellnessheimgeräten und neuerdings auch einer Auswahl spiritueller Filme. GAIAM, 1988 ursprünglich als Yogamattenhersteller gegründet, übernahm im letzten Jahr Stephen Simons erfolgreich expandierenden Spiritual Cinema Circle mit seinen weltweit mehr als 20.000 Abonnenten.
Neben dem Markt haben in den USA vor allem die Medien damit begonnen, auf den kulturkreativen Trend zu reagieren. Anzeichen dafür können im Erfolg von überregionalen “Trägern positiver Nachrichten” wie UTNE, YES und natürlich den in Millionenauflagen erscheinenden Yoga-Hochglanz-Magazinen gesehen werden. Großstädtische Szene-Blätter wie COMMON GROUND präsentieren neben den neuen Werten ebenso neue Produkte - Amerika wäre nicht es selbst, nähme es nicht jede ideelle Gelegenheit zum materiellen Verkauf wahr.
Bemerkenswerter ist vielleicht, dass in den USA auch die etablierten Presseorgane auf die Kulturell Kreativen aufmerksam werden. NEWSWEEK veröffentlichte bereits im letzten Jahr die Ergebnisse eine Umfrage zum Verhältnis der Amerikaner zur Spiritualität. Spätestens hier erfuhr ein breites Publikum, dass es ungeachtet der lautstarken christlich-fundamentalistischen Minderheit im Lande eine wachsende Zahl von Menschen gibt, die sich als spirituell versteht, ohne damit notwendigerweise an eine Religion gebunden zu sein. Die Kennzeichnung “spiritual, but not religious” findet seitdem neben “religiös”, oder “konfessionslos” als neues Label zunehmend in den Medien Eingang. So gesehen erfährt derzeit in den USA eine zentrale Qualität der Kulturell Kreativen ihre gesamtgesellschaftliche Integration als neuer Wert und veränderte Lebenseinstellung.
In Deutschland sind die tonangebenden Medien noch verhaltener. SPIEGEL ONLINE berichtete Ende letzten Jahres zwar etwas verwundert, doch ohne Häme über das Phänomen der Kulturell Kreativen. Die implizite Anmerkung, dass deren Werteskala eine spirituelle Offenheit beinhaltet, ist dabei nur ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber immerhin ein grosser Schritt für den SPIEGEL!
Abgesehen von diesen Erfolgen ihrer externen Wahrnehmung bleibt die Frage, ob es auch innerhalb der neuen Bevölkerungsgruppe eine Fortentwicklung gibt. Der Evolutionsphilosoph und Bewußtseinsforscher Ken Wilber beklagt jedenfalls deren bisheriges Ausbleiben und sieht zuwenig Anhaltspunkte, um sich der positiven Wertung Paul Rays der Kulturell Kreativen als Träger eines neuen “integralen Bewußtseins” anzuschliessen. Die Webseite des INTEGRALEN FORUMS zitiert Wilber: “Was Ray die integrale Kultur nennt, ist nicht integral in dem Sinne, wie ich den Begriff verwende. Es wurzelt nicht in universalem Integralismus, reifer Schau-Logik oder Sekundärschicht-Bewußtsein. Vielmehr deuten Rays Untersuchungen daraufhin, daß die Mehrheit der Kulturell Kreativen im Grunde das grüne Mem aktiviert, was klar aus ihren Werten hervorgeht: diese sind nämlich stark antihierarchisch, auf Dialog ausgerichtet und propagieren einen Flachland-Holismus ("Alles-und-Jedes-Ganzheitlichkeit", wie Ray es formuliert)."
Wilber sieht gleichwohl in dieser Bevölkerungsgruppe das Potential verkörpert, aus dem integrales Bewußtsein erwächst. “Wenn die Kulturell Kreativen in ihre zweite Lebenshälfte gelangen, ist der Zeitpunkt gekommen, an dem eine weitere Bewußtseinstransformation besonders leicht erfolgen kann, nämlich die vom Grün zum gereiften Sekundärschicht-Bewußtsein.”
Was Wilber im integral-evolutionären Jargon seiner Philosophie zum Ausdruck bringt, zielt vor allem auf die Qualität eines zur Integration fähigen und kohärenten Welt- und Selbstbildes. Eine integrale Perspektive ist in der Lage, Weltbilder wie “religiös-kollektiv” oder “materiell-individualistisch” sowohl historisch konstruktiv zu verorten als auch in der eigenen Persönlichkeit zur fruchtbaren Synthese zu führen. Mit anderen Worten: Integrales Bewusstsein versöhnt mit der Vergangenheit und schafft Freiraum für die Zukunft.
Fazit: Die gesellschaftliche Integration der Kulturell Kreativen macht Fortschritte. Damit diese Integration fruchtbar wird und nicht zur blossen Vereinnahmung gerät, gilt es die kulturKreative Haltung zu vertiefen. Von Pionieren wie Wilber - und lange vor ihm von Rudolf Steiner oder Sri Aurobindo - liegen dazu Anleitungen vor, sowohl zur eigenen wie zur gesellschaftlichen Weiterentwicklung. Im Hinblick auf die weltweiten und bedrohlichen Spannungen zwischen Moderne und Tradition, den beiden anderen grossen Protagonisten der Rayschen Bevölkerungsanalyse, kann eine integrale Perspektive durchaus einen Ausweg bieten. „Lifestyle of Health and Sustainability“ im weiteren Sinne interpretiert ist dafür sicher kein schlechtes Motto. Zu seiner Umsetzung braucht es allerdings statt kulturkreativer LOHAS-Konsumenten eher integrale LOHAS-Akteure.
Sunday, May 20, 2007
Hahnenkampf um Paradigmen
Westküsten-Streiflicht
Hahnenkampf um Paradigmen
Integrales Bewusstsein mit neuen Geschlechterrollen
Eine ungeschützte Beobachtung: Im politischen Leben, gleich ob Kalifornien oder Bayern, wirken die Vertreter traditioneller Welt- und Gesellschaftsbilder oft entschlossener und „kraftvoller“ in ihrem Auftreten als ihre liberalen Widerparts. Von jahrhundertealter Glaubensüberzeugung erfüllte Wahrheiten werden lautstark und selbstbewusst verkündet. Viele unentschlossene Wähler, selbst wenn sie eigentlich mehr zu liberalen Haltungen neigen, lassen sich von dieser scheinbar grösseren Schlüssigkeit beeindrucken.
Da es überwiegend Männer sind, die konservative bis fundamentalische Sichtweisen offensiv vertreten, die Frage: Ist diese ungebrochene Selbstgewissheit eine „männliche Eigenschaft“? In den USA gibt es jedenfalls viele, die die religiös orientierte Law-and-Order-Partei der Republikaner in Präferenz des „starken Geschlechts“ sehen und die sozial-liberaleren Demokraten eher dem weiblichen Wahlvolk zuordnen.
Jenseits vertrauter Polarisierungsmuster gibt es jedoch auch ein evolutionäres Erklärungsmodell. Nach diesem kündigt sich verborgen in einer liberal-integrativen Haltung ein grundlegend neues Welt- und Selbstverständnis an, das bisher einfach noch keine feste Gestalt angenommen hat.
Der US-Soziologe Paul Ray definiert die entstehenden Wertegemeinschaft der KulturKreativen unter anderem dadurch, dass sie sich noch keine verbindlichen Definitionen und kulturellen Ausdrucksformen geschaffen habe. KulturKreative – oder LOHAS - vereinen in eher lockerer Synthese Haltungen und Werte des traditionellen wie des modernen Lagers. Den konsequent nächsten Schritt, die innere und äussere Arbeit zur Definierung eines neuen und kohärenten Weltbildes, leisten allerdings nur wenige. Integrales Bewusstsein nennen der Evolutionsphilosoph Ken Wilber und der Entwicklungssoziologe Don Beck das geglückte Ergebnis solcher Erkenntnisarbeit.
Wilber war es auch, der auf die sogenannte Prä-/Trans-Verwechslung hinwies. Sie geht davon aus, dass sich heute neben traditioneller Religiosität eine sozusagen emanzipierte Spiritualität entwickelt hat. Sie bezieht rationales Denken mit ein, geht aber darüber hinaus. Diese transrationale oder ganzheitliche Haltung als solche nicht zu erkennen und stattdessen jegliche Form von Spiritualität als vormodern und vorwissenschaftlich einzustufen macht eben die Prä-/Trans-Verwechslung aus.
Lange vor Wilber hatte schon Rudolf Steiner eine entwicklungsbezogene Differenzierung innerhalb der spirituellen Ausdruckformen vorweggenommen. In seinem Vortrag Die Bhagavad Gita und die Paulusbriefe vergleicht Steiner die in Jahrtausenden ausgereifte Meisterschaft der vedisch-upanischadischen Spiritualität mit dem jungen, zu sich selbst erwachendem Christus-Bewusstsein. Ein Qualitätsvergleich, der hinsichtlich der jeweiligen Ausformung ohne Berücksichtigung der unterschiedlichen Entwicklungstiefe haushoch zugunsten der älteren asiatischen Spiritualität ausfällt.
Vielleicht auch deshalb erscheinen bis heute vielen Suchenden im Westen Advaita und - der auf historischen Grundlagen beruhende - Buddhismus als dem Christentum überlegene und verfeinertere Lebenskünste.
Der Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn beschreibt die Abfolge jeweils dominierender Paradigmen. Ein neues Weltbild äussert sich zunächst schwach und vereinzelt. Im Stärkerwerden erfährt es meist heftige Abwehr seitens des regierenden Establishments. Kuhn personalisiert diese Auseinandersetzung: Erst mit dem Aussterben der nachdrücklichsten Verteidiger der bisherigen Lehrmeinung kann die neue dominierend werden.
Welches Paradigma in einer Gesellschaft vorherrschend ist, stellt sich so gesehen auch als eine Frage der (Laut-)Stärke ihrer jeweiligen Repräsentanten dar.
Dies mag helfen zu verstehen, warum dieser Darwineske Kampf um Welt- und Menschenbilder historisch gesehen meist von Männern geführt wird. Wilbers Versuch der Definierung und Implementierung eines neuen, integralen Bewussstseins scheint sich konsequenterweise vorrangig an männliche Rezipienten zu richten. Ausdruck findet dieser maskuline Appell zum einen im intellektuellen Gewand seiner ganzheitlichen Theorien und zum anderen in der kritikreichen Aggressivität des Wilberschen Ansatzes. Nicht zuletzt sprechen das muskelbepackte Äussere und die verbalen Cowboy-Attitüden Ken Wilbers für sich.
Es sind dies in jedem Fall ungewohnte Bilder und Töne in der sonst überwiegend sanft-esoterischen New Age-Ecke. In dieselbe versuchen die herrschenden Mainstream-Eliten in USA and Deutschland Wilber zu kategorisieren - allerdings nur mit mässigem Erfolg: Unter anderem Autoritäten wie Bill Clinton und Al Gore beziehen sich öffentlich auf Wilber.
Ein weiterer wichtiger Aspekt integralen Denkens, die ökologische Ganzheitlichkeit, wird in Amerika ausgerechnet vom legendären Macho (und Republikaner) Arnold Schwarzenegger vertreten. Mit seiner kalifornischen Umweltpolitik trägt der Governator nicht unerheblich dazu bei, energiesparende Verhaltensweisen (Stichwort Global Warming) in den USA hoffähig zu machen.
Glücklicherweise, so lässt sich bei Wilber nachlesen, kann vom Integralen Bewusstsein auch eine Synthese von männlichen und weiblichen Haltungen erwartet werden. Dieses neue und mehr intuitive Denken beinhaltet beispielsweise eine kommunikative, vermittelnde Qualität, doch zugleich darf (und muss) auch wieder stärker gewertet werden. Lange Zeit tabu in der positivierenden New Age-Esoterik. Wertungen beruhen hier allerdings nicht mehr auf moralischen Prinzipien, sondern eher auf situationsbezogenen und ganzheitlichen Abwägungen.
Vielleicht also sind es wie in den Vereinigten Staaten bald auch im Freistaat Bayern
zunehmend „g´standene Mannsbilder“, die als Vertreter eines integralen Bewusstseins in Erscheinung treten. Spätestens dann werden auch die letzten SPIEGEL-Leser bemerken, dass ein neues Paradigma im Raum ist.
INFO 3, Juli 2007